Bella blieb stehen und warf einen Blick auf die Pulsuhr. 158. In ihren Ohren pochte und dröhnte es. Sie beugte sich nach vorne und stützte die Arme auf den Oberschenkeln ab. Trotz der Hitze lange Hosen, wie jeden Tag. Sie trug niemals Sachen, in denen man ihre Beine sehen konnte. Hässlich, unförmig, überdimensional. Sie keuchte, der ganze Brustkorb brannte. Schweißtropfen liefen an den Innenseiten ihrer Arme hinab und hinterließen eine kalte Spur, das weite Shirt klebte am Rücken. Sie starrte auf den Gehweg, registrierte Schuhe, die ihr aus dem Weg gingen. Sollten sie doch.
Sie taumelte und stützte sich kurz an der Wand ab, schloss die Augen, versuchte, besonders tief ein- und auszuatmen. Röcheln, Keuchen, Pochen. Doch in ihrem Kopf war es still. All die Gedanken hatte sie hinausgerannt, wenigstens für eine kleine Weile. Sie fühlte nichts, gar nichts. Sie genoss diesen Moment der Leere.
Langsam beruhigten sich Atmung und Puls. Sie richtete sich auf, ging die paar Stufen hoch und öffnete die Tür zum Gemeinschaftsflur. Da stand die alte Vettel vom Erdgeschoss wieder. Bella verkrampfte sich, versuchte, an ihr vorbeizusehen und beschleunigte ihren Schritt.
»Na, Frolleinchen? Wieder laufen gewesen? Warum machst du das? Wirst ja immer dünner, Mädchen.«
Bella presste die Lippen zusammen, nickte leicht und huschte an ihr vorüber.
»Werden auch immer komischer, die Kinder«, hörte sie die Alte unten brummen. »Und denk dran, ihr seid diese Woche mit dem Hausflur an der Reihe.« Dann fiel eine Tür ins Schloss.
Zwei Etagen hoch bis zum Dachgeschoss. Ihre Beine brannten, drohten nachzugeben. Als sie die Wohnungstür aufschob, brandete ihr die gute Laune mit der Heftigkeit eines Tsunamis entgegen. Sie bäumte sich auf und ging in Verteidigungsstellung.
»Raindrops keep falling on my head«, schallte ihr entgegen, sie hörte ihre Mutter mit summen. Vicky saß in der Küche vor einer riesigen Tasse dampfendem, schwarzem Kaffee. Die oberen Knöpfe ihrer knallig orangefarbenen Bluse erlaubten einen Blick, der ihrem Alter nicht angemessen war. Die riesigen Creolen schimmerten in der Morgensonne. Warum konnte sie sich nicht anziehen wie andere Mütter? Die Balkontür stand offen, trotzdem stank die ganze Küche nach Zigarettenrauch. Bella sah ihre Mutter strafend an und verkniff sich eine Bemerkung. Für Wortgefechte reichte ihre Kraft nicht mehr.
Vicky schenkte ihr ein übertrieben warmes, aufmunterndes Lächeln. »Schätzchen, du bist spät dran.«
Sie konnte Bella nichts vormachen. Hinter all der Fröhlichkeit sah sie den mitleidigen Ausdruck, dieses »Was ist nur mit dir los?« Und dieses »Lass dir doch helfen«. Die Scheinheiligkeit fachte ihre Wut neu an. Auf ihrem Platz stand eine Tasse mit Kakao, daneben ein fertig geschmiertes Graubrot mit Nutella. Als ob Vicky nicht genau wüsste, dass sie das nicht essen würde. Sie wurde nicht respektiert. Ihr Magen fühlte sich an, als sei er mit Steinen gefüllt. Wie beim Wolf und den sieben Geißlein. Vielleicht sollte sie sich gleich in einen Brunnen stürzen. Apropos Brunnen: Sie schüttelte den Kopf. »Ich geh duschen.«
Die Radiomusik verstummte dankenswerterweise. „Pip, pip, piiiep. Sieben Uhr dreißig, guten Morgen, die Kurznachrichten aus Ihrer Region …“ Vicky erhob sich und schaltete das Radio ab. »Ich muss los. Tu mir den Gefallen und iss dein Frühstück. Nicht wieder in den Müll werfen, und denk an dein Pausenbrot. Im Korb liegen Äpfel und Bananen. Bis heute Abend, Schatz.« Sie zögerte kurz. »Und vergiss nicht, die Balkontür zu schließen.«
Bella stellte beim üblichen Redeschwall ihrer Mutter die Ohren auf Durchzug.
Vickys Blick fiel nach draußen. »Oh mein Gott, ich hab die Kräuter noch nicht gegossen. Würdest du …« Ein kurzer Blick auf ihre Tochter und sie ging lieber selbst Richtung Balkon.
Bella sah ihr nach und wartete sehnsüchtig darauf, dass ihre Mutter endlich die Wohnung verlassen würde.
Vicky streichelte sanft über die kugeligen Blätter des Basilikums und strich an den Halmen des Schnittlauchs entlang, zog genüsslich die Luft durch die Nase ein. Ein Strahlen wanderte über ihr Gesicht. »Wie ich diese wunderbaren Aromen liebe. Kein Künstler könnte so etwas Wunderbares je erfinden.« Sie griff nach der Kanne, tastete sorgfältig nach der Erde, um die Feuchtigkeit zu prüfen, und dosierte die Wassergaben. „Meine kleinen Lieblinge.“
Vielleicht würde ihre Mutter sie lieber mögen, wenn sie grün wäre. Bella schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging ins Bad, hörte gerade noch die Tür ins Schloss fallen. Endlich Stille!
Sie stieg aus der verschwitzten Hose und zog das Shirt über den Kopf, warf beides auf den Fußboden. Sorgfältig vermied sie den Blick auf den Spiegelschrank, die klitschnasse Unterhose klebte an den Beinen fest. Gott, war das eklig. Kein Wunder, dass sie keinen Appetit hatte. Aus der Magengegend brüllte ihr ein dumpfer Schmerz entgegen.
Ihr fiel etwas ein. Sie nahm die Jogginghose vom Boden auf und tastete nach den Taschen, griff hinein und ließ die Finger kreisen. Da war er. Klein und rund und glatt poliert, schimmerte seine Oberfläche in grauen und schwarzen konzentrischen Kreisen. Sie fuhr mit dem Daumen über die kleine Einkerbung, die ihm die entfernte Form eines Herzens verlieh. Nackt patschte sie in ihr Zimmer, warf der verspiegelten Schranktür einen besorgten Blick zu und atmete erleichtert auf. Ihre Mutter hatte die Decke noch nicht entfernt, mit der sie ihr verhasstes Spiegelbild wegsperrte.
Sie griff nach einem Notizzettel und einem Stift. »2. Mai, in der ersten Kehre des Geisterbachs, schimmerndes Schwarz wie mein eigenes Herz«. Den Zettel legte sie auf das Regal und deponierte den Stein darauf. Stolz betrachtete sie ihre Sammlung. Vierundzwanzig Steine hatte sie gesammelt. Einen großen, dicken Kiesel mit einer mittigen Kerbe nahm sie herunter. Das war ihr erster. »6. Juni, auf der Wiese neben Henselers Scheune, fett und rund wie mein eigener dicker Arsch«. War ja kein Wunder, dass niemand sie leiden mochte.
Das war noch einer ihrer ersten Läufe gewesen, nicht mal ein Kilometer. Mittlerweile schaffte sie zwölf. Morgen früh würde sie früher aufstehen und die Abzweigung am Bach nehmen. Das wären dann vierzehn Kilometer. In einem Jahr konnte sie am Marathon teilnehmen. Dann würde sie endlich schlank sein. Schlank und schön. Und man würde sie mögen.
Sie sah auf die Uhr. Zehn vor acht. Sie rannte ins Bad und stellte die Dusche an. Hier im dritten Stock dauerte es ewig, bis warmes Wasser aus der Leitung kam. Sie fror mittlerweile und atmete erleichtert auf, als sie sich endlich unter den warmen Strahl stellen konnte. Weil sie den Waschlappen vergessen hatte, verzichtete sie auf das Einseifen. Während sie sich abtrocknete, überlegte sie, wie sie ihr Zuspätkommen in der Schule begründen würde. Sie entschied sich, dass sie ihre Hausaufgaben zuhause vergessen hatte und deshalb nochmal zurückgelaufen war. Das klang, als ob sie sich Mühe gäbe.
Sie wappnete sich gegen die fragenden Blicke, die ihr die Lehrer und Mitschüler wieder mal zuwerfen würden. Die frühen Stunden waren ganz okay, aber den Rest des Tages konnte man echt in der Pfeife rauchen.