21. November 2024

1. Jagdfieber

Von sabine und mmende

Im Schatten der Buchen stand ein Wolf,

die Schnauze grau, Kopf und Hals mit Narben übersät. Kaum wahrnehmbare Erschütterungen unter seinen Pfoten alarmierten seinen Jagdinstinkt – Schritte näherten sich! Ein fernes Knacken weckte all seine Sinne, seine Ohren stellten sich. Ein Windhauch umwehte ihn und brachte eine Botschaft, die nichts Gutes verhieß – Mensch! Der Wolf sprang auf, wandte sich zur Flucht, die Nase in den Wind gelegt. Abrupt hielt er inne und lauschte aus dem Verborgenen heraus. Ein Keuchen, wie unter großer Qual, es schleppte sich direkt auf ihn zu. Seine Nasenflügel bebten, als er die Witterung aufnahm. Der Geruch nach Blut stachelte seine Gier an.

Aus den Nebelschwaden der Abenddämmerung tauchte der Mensch auf. Es war ein Weibchen, und es roch nach Erschöpfung, Angst und frischen Wunden. Ihr Junges, in einem Schultertuch geborgen, weinte. Die Muskeln des Wolfs spannten sich. Sein Unterkiefer zitterte, Geifer tropfte von den Lefzen. Aber da war noch etwas, hinter der Fliehenden. Fast lautlos, unbestimmt, bedrohlich. Uralte Sinne schrien Alarm. Er drückte sich flach auf den Boden.
Zwischen den Buchen taumelte die Frau auf ihn zu, stolperte, Zweige peitschten ihr ins Gesicht. Ihre Kleider hingen in Fetzen, ein Schuh fehlte. Ihre Unterarme waren von blutigen Striemen überzogen. Sie blieb stehen und rang nach Luft. Hinter ihr knackte es im Unterholz. Sie fuhr herum. In einiger Entfernung huschte eine schemenhafte Gestalt mühelos durch das Gestrüpp.

Die Gehetzte sah auf den Pfad,

der vor ihr lag, und wieder zurück zu ihrer Verfolgerin. Sie schien in ihrer Not die Strategie zu ändern, richtete sich auf, hob beide Arme und winkelte die Hände ab, als wolle sie einen Geist beschwören. Eine wirbelnde Feuerscheibe entsprang ihren Handflächen, gewann rasend schnell an Größe und schoss auf ihr Ziel zu. Auf ihrem Weg hinterließ sie eine brennende Schneise, Flammen loderten bis zu den Baumwipfeln. Inmitten einer Feuersäule wurde eine Frau sichtbar. Ihr Umhang blähte sich, ihre Kapuze wehte vom Kopf, eine rotblond schimmernde Mähne wurde eins mit den lodernden Flammen. Doch der Angriff lief ins Leere, der Rotschopf setzte die Jagd mit unvermindertem Tempo fort.
Die Verfolgte ließ die Arme fallen, umgriff das Bündel vor ihrem Bauch und wandte sich zur Flucht, blieb in einer Wurzel hängen und verlor das Gleichgewicht. Im Fall noch drehte sie sich und hielt ihr Kind geborgen. Sie stürzte rücklings ins Unterholz.
Der Wolf hörte das Bersten von Zweigen und ein feuchtes Schmatzen; die Witterung nach Blut wurde plötzlich übermächtig. Der Körper der Frau wurde schlaff, ihre Augen weiteten sich, das Bündel glitt ihr aus der Hand. Blut und Schaum quollen über ihre Lippen.


Abrupt blieb die Jägerin stehen,

zögerte, taxierte die Szene, zog ein Messer aus der Scheide ihres Stiefels und kam lauernd näher. Über ihrem Opfer verharrte sie, es streckte die Hand flehend aus, versuchte vergeblich zu sprechen.
Vorsichtig hielt der Wolf nach der Jägerin Ausschau. Ob sie ihm etwas von der Mahlzeit übrig lassen würde? Diese Beute konnte sich nicht mehr wehren! Die Jägerin schien das auch zu spüren; ihre Schultern senkten sich, sie öffnete den Umhang und legte ihn neben sich ab, steckte das Messer an seinen Platz zurück. Sie kniete sich neben ihrer Beute nieder.
In ihren Augen lag kein Triumph, sie nahm die Hand ihres Opfers, strich ihr über den Kopf. »Es ist gut, Raffaela. Alles ist gut.«
Krämpfe schüttelten die Sterbende. Die Jägerin stützte ihren Kopf und wischte ihr das Blut vom Mund.
»Mein … Kind, bitte, ich flehe dich an, tu ihm nichts!« Sie hustete. »Angelica, bitte!«
Angelica beugte sich über sie. »Deinem Kind droht keine Gefahr. Hab keine Angst. Du hast es bald überstanden.«
Raffaelas Augen weiteten sich, sie keuchte, hustete. »Wird er …« Heftiges Würgen unterbrach ihre Frage. »Wird er …« Ihre Stimme versagte, ihre Lippen formten die Worte. » … mich holen?«
Angelica sah sie lange an und nickte. Langsam glitt ihre Hand an der Wange entlang bis zum Hals, kreiste, fand das Chakra. Sie atmete tief durch und wappnete sich. Die Vision stürzte über sie herein.
Schwärze, Nacht, Schmerz! Reißende Klauen, die sie packten. Hass, Wut, Gier. Erinnerungen an Tod, Leid und Elend. Augen, die sie flehend ansahen. Frauen, die auf Raffaelas Altären den Opfer-Tod fanden …
Angelica riss sich los. Schwer atmend kniete sie neben der Sterbenden. Sie fasste sich in den Ausschnitt und holte an einem Silberkettchen ein antikes Medaillon hervor, das ein kleines Heiligenbildchen zierte. Es strahlte in der dämmerigen Umgebung einen sanften Schimmer aus.
»Heilige Columba,
Die du wohnst im Schutz des Höchsten
weilst im Schatten des Allmächtigen
Sprich zum Herrn: Du meine Zuflucht, meine Burg
mein Gott, auf den ich vertraue
Denn er ist es, der dich rettet aus dem Netz des Jägers.«

Ein tiefes Grollen ließ sie stocken.

Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag, das Leuchten verblasste. Sie presste das Medaillon an ihre Lippen, ließ den Anhänger wieder in den Ausschnitt gleiten und sah auf die Sterbende. Jedes Mitgefühl war aus ihrem Blick gewichen. „Ja, du bist sein.“
Sie wartete geduldig, bis Raffaela still lag. Sanft legte sie ihren Kopf ab und löste ihre Hand. Langsam stand sie auf, reckte sich und wandte das Gesicht gen Himmel. Ihre Hände bildeten einen Kreis, rote Flammen lohten auf und füllten den Raum zwischen ihnen. Das Feuer wurde intensiver, pulsierte, wogte hin und her, verließ den engen Kreis ihrer Hände, mit jeder Geste gewann es an Form, bis eine Fratze erkennbar war. Schwarz glühende Augen erfassten die Szene. Erneut war das Grollen zu vernehmen, diesmal lauter und bedrohlicher. Das Gesicht neigte langsam den Kopf, fixierte Angelica und gab ein schriller werdendes Heulen von sich.
Angelica gab den Blick mit ausdruckslosem Gesicht zurück. Er wandte sich der Toten zu, ein fahles Licht ging von ihm aus, waberte um Raffaelas Leib. Sie wand sich in Krämpfen und riss den Mund übernatürlich weit auf. Schwarze Fäden züngelten daraus hervor, suchten Halt, tasteten umher. Sie krümmten sich, wichen vor dem Dämon zurück, doch sie wurden unwiderstehlich angezogen und von der Fratze begierig aufgesogen. Das Heulen des Dämons war einem hysterischen Kreischen und Japsen gewichen. Mehr und mehr Tentakel entfuhren Raffaelas Leib und wurden Opfer der Finsternis. Endlich versiegte der Strom. Der Dämon wandte sich wieder Angelica zu, seine Augen leuchteten begehrlich auf.
Ein gepresster Schrei entfuhr Angelicas Kehle und sie riss die Hände auseinander.
Die Fratze sank in sich zusammen, alle Feuer erstarben.
Raffaelas Blick verlor sich in der Unendlichkeit, ihr Kopf fiel zur Seite. Angelica kniete nieder, legte ihr die Hände sanft an die Wangen und schloss ihre Lider. Sie kreuzte die Hände der Toten vor der Brust. »Mögest du Vergebung finden!« Alle Spannung war aus der Jägerin gewichen. Sie setzte sich auf den Boden, zog die Beine an, umfasste die Knie und legte den Kopf darauf ab. So verharrte sie minutenlang.

Langsam schlich der Wolf näher.

Warum fraß die Jägerin nicht? Menschen waren seltsam, Töten und Fressen hatten für sie keinen Bezug. Hungrig beäugte er die Beute.
Ein leises Wimmern ließ beide den Kopf heben. Angelica warf einen Blick zu dem Bündel auf dem Waldboden und schlug die Decke zurück. Sie betrachtete das Kind, atmete tief durch und lächelte sanft. »Du ahnst nicht, welches Schicksal dir erspart bleibt.«
Sie drehte sich, um nach dem Umhang zu greifen. Ihre Augen suchten kurz und fanden den Wolf. Er zuckte zusammen, senkte seine Ohren, die Rute klemmte zwischen seinen Läufen.
»Komm her mein Freund«.
Vorsichtig schlich der Wolf näher und stupste Angelica an. Sie kraulte ihn hinter den Ohren, nahm das Kind in den Schoß und angelte ein Handy aus der Hosentasche.
»Siri, Ngomo anrufen.«
»Kardinal Ngomo wird angerufen.« Der Wolf legte die Ohren an. Wo war der Sprecher? Wenige Augenblicke später war die Stimme eines weiteren Unsichtbaren zu hören, leise, unnatürlich. Auch sie kam aus der Hand der Jägerin.
»Ngomo.«
»Monsignore? Auftrag ausgeführt.«
»Gab es Probleme?«
»Nein. Ein Unfall hat mir die Arbeit abgenommen. Es … es wird allerdings immer schwerer. Der Dämon …«
Die unsichtbare Stimme ließ sich mit der Antwort Zeit.
»Ich weiß. Es tut mir leid.« Lauter fuhr er fort. »Zeugen?«
Die Jägerin kraulte das Fell des Wolfes. »Keine Spuren. Keine Beweise. Weitestgehend jedenfalls.«
»Was bedeutet das?«
»Ich habe ihren Sohn im Arm. Ich konnte ihn nicht töten.«
»Angelica, Sie wissen genau …«
Ihre Stimme wurde lauter, nachdrücklich. »Keine Diskussion. Er ist ein unschuldiges Kind. Ich werde mich darum kümmern. Ich melde mich.«

Es wurde still.

Die Jägerin betrachtete noch einmal die Leiche vor ihr, sah auf die Stelle, wo vor Minuten noch der Dämon erschienen war. Bei dem Gedanken daran würgte sie, zog die Mundwinkel nach unten, sammelte den Speichel und spuckte ihn in den Wald. Sie nahm das Kind auf und sah dem Wolf in die Augen.
Ihr Blick folgte seinem zur toten Raffaela. »Fühl dich eingeladen!«
Sie richtete sich auf, warf den Umhang um sich und das Kind und ging in die Richtung, aus der sie gekommen war, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sorgfältig mied sie alle Stellen, an denen es noch glimmte.
Der Wolf sah ihr hinterher, dann wandte er sich um, an der Leiche vorbei. Er fand eine günstige Stelle, setzte sich und reckte den Kopf in den Himmel, sandte seinen Gesang durch die Weiten des Waldes. Von allen Seiten näherten sich mehr und mehr Augenpaare in der Dunkelheit.

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