21. November 2024
Erdmännchen

3. Codename “Erdmännchen”

Von unserem Autor Michael

Fliff stand mit hoch erhobenem Armen in einer kleinen Höhle, die Augen geschlossen, ein seeliges Lächeln gab ihr einen entrückten Ausdruck. Beim Schöpfungsakt hatte sie vermutlich Modell gestanden: Augen, schwarz wie Johannisbeeren, Ohren, rund wie Äpfel und eine schlanke Nase, ständig auf der Suche nach Essbarem. Ein Bauch, über den noch kein Überlebender berichtet hat, und ein Schwanz, so buschig, dass man damit die Sahara in einer Nacht fegen könnte. Platzsparend formuliert: perfekt. Außerdem hatte sie ein Herz aus Gold.

Aber das können wir an dieser Stelle noch gar nicht wissen.

Fliff.

Es hat eine Zeit gegeben, in der man mit einem einzigen Wort eine Stadt räumen konnte: „Die Hunnen kommen!“

Fliff.

Im Mittelalter war es der schwarze Tod: Ist das da eine Beule? Warum wirkst du so kränklich?

Und heute? Alle Plagen der Menschheit versinken in einem Sumpf aus dröger Langeweile. Ebola? Heino? Alles schon dagewesen. Was lässt einen Teenie heute noch von seinem Handy aufsehen?

Fliff!

Man kann sich kein schöneres Geschenk als Fliff wünschen – sofern einem Hörner aus der Stirn wachsen und gerade ein Schub frischer Seelen eingetroffen ist.

Vier Tunnel führten in die kleine Höhle hinein, aber was noch viel wichtiger war: sie führten auch aus ihr heraus. Vor jedem Ausgang bildete sich ein Haufen wimmelnden Fells. Erdmännchen krochen über- und untereinander in einer kopflosen Flucht.

„Willkommen, willkommen meine Damen und Herren.“ Fliff verbeugte sich und klatschte mit dem Schwanz Beifall auf dem Boden. „Worüber werden wir heute sprechen? Hm? Ja! Richtig. Heute stelle ich Ihnen die renommierteste, modernste Rehabilitationsklinik vor, die die Welt je gesehen hat.“

„Zumindest, wenn man die Welt auf dich beschränkt.“

Fliff fuhr herum. „Wie war das? Filli, hierher! Hier …“

„Nichts, nichts!“ Ein letzter buschiger Schwanz verschwand im Dunkel eines Gangs.

Fliff seufzte, schloss die Augen und wandte sich der jetzt leeren Örtlichkeit zu. In einer formvollendeten Bewegung strich sie sich die Schnurrhaare zurecht und pfiff wohlwollend. „Wenn mir die Damen und Herren jetzt folgen würden?“

Fliff glitt von ihrem Stein und strebte einem Tunnel zu. „Wir verlassen jetzt unsere Anlage und begeben uns in den angebauten Komplex der Menschen. Wer noch sein Geschäft verrichten möchte, tut das bitte hier. Die Sanitäranlagen unserer Patienten sind anatomisch für uns nicht geeignet.“ Sie deutete auf ein Häufchen zu ihrer linken und veranschaulichte ihren Ratschlag.

„Ah, schon besser. Passen Sie bitte ein wenig auf. Die Menschen sind sehr scheu. In der Regel geben wir ihnen das Gefühl der Kontrolle und therapieren sie nur in ausgewiesenen Bereichen, aber ich bevorzuge den unmittelbaren Kontakt. So, hier wären wir.“ Sie trat etwas beiseite und deutete auf ein Gitter über ihr. Mühelos schlüpfte sie bis zur Brust hindurch. Der Rest folgte unter wütendem Zwitschern mit einem erlösenden Plopp. Indigniert stand sie in einer gewaltigen Halle und strich sich das Fell glatt. Eine Stelle um ihre Hüften brachte sie mit der Zunge auf den richtigen Glanz.

„Liebe Herrschaften, diesen Dom nennen unsere Patienten ein Kinderzimmer. Bitte werden Sie Zeuge meiner außergewöhnlichen therapeutischen Kompetenz. Anders als meine Kollegen,“ aus ihrem Mund klang das Wort schleimig, „finde ich es nicht mühsam, den Kontakt zu Menschen herzustellen. Schauen Sie: diesen Komplex hier nennen sie ‚Das Bett‘. Hier schlafen sie – und Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Zeit die damit verbringen – und hier sorgen sie für Nachwuchs. Aufgepasst!“

Das Gesicht eines Mädchens erschien über dem Bettrand. Seine Augen waren rot und verquollen, Spuren von Kajal markierten den Weg über die Wangen. Ihr Blick irrte suchend durch das Zimmer.

„Warten sie es ab, nicht der Therapeut sucht den Kontakt zum Patienten, sondern der Patient selbst entscheidet über die Beziehung“, pfiff sie fröhlich.

Auf ihren letzten Pfiff hin fand das Mädchen ihr Ziel. Ihr Gesicht hellte sich auf, die Augen strahlten. Sie schwang die Beine über die Bettkante und kniete sich vor Fliff, hielt die Hände offen hin. „Oh, mein süßes Kleines, komm zu mir!“

„Und, liebe Kollegen, ganz wichtig: gebt dem Patienten das Gefühl, die Situation zu kontrollieren, aber gebt die Kontrolle nie aus der Hand.“ Fliff wandte sich ab und schaute über die Schulter zurück zum Mädchen. „Außerdem ist es so viel bequemer.“ Sie zwinkerte ihrem Auditorium zu.

Das Mädchen beugte sich vor und nahm Fliff vorsichtig in die Hände. „Och, du bist ja so süß.“

„Beachten Sie den Einsatz meiner Körpersprache! Können Sie erkennen, wie in meiner Patientin auf einmal lange unterdrückte Emotionen frei fließen können?“

Sie legte sich auf den Rücken und wandte den Kopf zur Seite. Das Mädchen bedeckte Fliffs Körper von oben bis unten mit Streicheleinheiten.

„Liebe Freunde, es ist essentiell, sich in den Kranken hinein zu versetzen. Sehen sie, welche Reaktionen ich in ihr hervorrufen kann?“ Fliff bog ihr Kreuz durch und reckte ihren Bauch dem Finger entgegen. Über die Wangen des Mädchens liefen Tränen.

„Ach Kleines, schau mal, was ich für dich aus dem Speisesaal gemopst habe!“ Sie langte nach oben, ihr Arm verschwand in schwindelerregenden Höhen, um mit einer kleinen Schale zurückzukehren.

Himbeeren! Fliff stürzte sich drauf und vertilgte im Handumdrehen eine komplette Beere. Verschmitzt lächelte sie ihrem imaginären Publikum zu: „Aber hallo, das können wir besser, oder?“ Sie drehte sich auf den Rücken und öffnete den Mund. Das Mädchen hob sie an, drückte sie gegen ihre Brust und begann sie zu füttern. Zwischen zwei Häppchen fiepste Fliff ihren Monolog weiter.

„Und hierauf beruht unser Therapiekonzept. Unbewusst setzt sich das Menschenkind mit ihren unterdrückten Problemen auseinander. Sehen Sie doch nur, sie hält mich wie ein Menschenbaby an die Brust und versorgt mich mit Nahrung. Um Milch zu geben, ist sie noch nicht alt genug. Sie machen sich keine Vorstellung, wie viele Jahre ein Mensch dazu braucht. Die sind echt die Krönung der Schöpfung. Aber verstehen sie das Prinzip?“

Die Schale war leer, die Streicheleinheiten gingen weiter.

„Und jetzt das Wichtigste. Erkennt, wann die Sitzung zu Ende ist. Das ist einer langen Lebenserwartung zuträglich.“ Fliff sprang zu Boden, huschte zum Gitter und – steckte zwischen den Streben fest!

„Rita! Was ist das für ein Lärm? Sind schon wieder diese Ratten in deinem Zimmer?“ Die Tür krachte gegen die Wand. Verdammte Himbeeren!

Von unten packte etwas Fliffs Füße und zog und zerrte. Fliff landete in einem Haufen aus Fell und Flüchen in den Tunneln.

„Verdammt Fliff! Wo treibst du dich schon wieder rum?“

„Mama, jetzt halt mal die Luft an!“

„Und überhaupt, mit wem quasselst du die ganze Zeit? Steht dieses Mundwerk eigentlich nie still? Du bist die Strafe Gottes für meinen Unglauben.“

„Ich hab da so eine Ahnung, wo ich es her habe …“ Aber ihre Mutter war viel zu sehr mit Schimpfen beschäftigt, um auf die Spitze zu reagieren.

Und so ging es weiter, zurück in die Tiefen des Baus.

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