Von unserer Autorin Sabine
Barbara hörte ihrem eigenen Atem zu. Beim Ausatmen bildeten sich feine Nebel vor ihrem Gesicht, die sich rasch auflösten. Eiskristalle setzten sich in den feinen Gesichtshärchen ab, die zusammen mit den gefrorenen Schweißperlen auf der Stirn ein unangenehmes Spannungsgefühl erzeugten.
Mühsam kämpfte sie sich durch den harschen Schnee. Beim Auftreten bot er Widerstand. Erst wenn sie ihr Gewicht verlagerte, brach der Schuh ein und sackte bis zur Eisfläche auf dem Untergrund. Der zurückbleibende Eisrand kratzte ihre Fesseln blutig. Sobald sie sich abdrückte, rutschte die Sohle weg. Sie drohte zu straucheln, ruderte mit den Armen. Jeder Schritt war eine Qual.
»Weiter, geh weiter«, sagte die Stimme.
Unwillig schüttelte Barbara den Kopf und keuchte. »Ich kann nicht mehr.«
»Weiter, geh weiter.«
Die Stämmchen, nach denen sie griff, bogen sich unter der Last, ächzten. Hektisch schob sie Äste mit den Unterarmen zur Seite. Sobald sie vorbei war, fegten sie widerwillig an ihren alten Platz zurück. Barbara war ein Störenfried in der winterlichen Stille.
»Du hast es gleich geschafft.«
Erschöpft blieb Barbara stehen, rang nach Luft. Da vorne war es: Ein Zaun. »Ich bin gleich da«, rief sie in den Winterwald. Niemand hörte zu. Weiter, immer weiter. Es schien Stunden zu dauern, bis sie die paar Hundert Meter überwunden hatte. Endlich stand sie davor: Ein hoher Maschendrahtzaun mit Sichtschutz, die Pfähle einbetoniert. Vergeblich sah sich Barbara nach einem Tor um. »Ich kann da nicht hinein.«
»Du musst das Tor suchen, geh weiter.«
Barbara atmete aus und sah am Zaun entlang, erst in der einen Richtung, dann in der anderen. Alles sah irgendwie gleich aus.
»Du kennst die Richtung, geh weiter.«
»Verdammt!«, brüllte Barbara ihren Frust heraus. Sie entschied sich für die linke Seite und hangelte sich über vereiste Graspolster und Betonsockel, blieb an vertrockneten Himbeersträuchern hängen, knickte an Wurzeln um, stürzte. Ihre Hände waren aufgekratzt, sie spürte den Schmerz in der Kälte nicht. Mühsam rappelte sie sich wieder auf. Da vorne war es: Das Tor, eine riesige, hohe Klinke, schmiedeeisern, die beim Herabdrücken knarrte.
Sie musste sich mit der Schulter gegen die Tür lehnen, um sie zu öffnen, dann stolperte sie hinein, blieb mit der Hand an der Klinke wie versteinert stehen.
Ein riesiger See lag vor ihr. Totenstill, von Eis bedeckt. Die Oberfläche sah merkwürdig aus. Nicht glatt, wie man das erwarten würde. Die Wellen schienen in der Bewegung erstarrt zu sein. Vorsichtig näherte sich Barbara. Das Knirschen des Schnees unter ihren Sohlen war das einzige Geräusch. Instinktiv erwartete sie ein Schwappen oder Gluckern, doch kein Laut drang an ihre Ohren.
Mit immer kleiner werdenden Schritten trat Barbara an das Ufer heran, suchte nach einer Bewegung unter dem Eis, Luftblasen. Nichts. Das Eis schien bis zum Grund zu reichen. In der Mitte des Sees ragte ein Fels hervor.
»Geh da hin, Barbara. Geh zu dem Felsen.«
»Und was ist, wenn ich einbreche?«
»Geh.«
Prüfend ging Barbara in die Hocke, legte die Handfläche auf das Eis, versuchte eine Bewegung zu erhaschen, eine Vibration. Nichts. Alles tot. Sie richtete sich auf, setzte einen Fuß auf den See, verlagerte vorsichtig das Gewicht, wartete auf ein verräterisches Knarzen. Jetzt hob sie den anderen Fuß an, ihr ganzes Gewicht lag auf dem Eis. Es hielt stand.
Einen Fuß vor den anderen setzend ging sie Richtung Seemitte. Sie spürte das Blut im Hals pulsieren. Langsam näherte sie sich dem Felsen. Er sah aus wie ein Meteorit, dunkelgrau und eckig, die Oberfläche verglast. Eine bedrohliche Kraft ging von ihm aus.
»Berühre den Stein.«
»Nein, ich will das nicht. Ich fürchte mich vor ihm.«
Sie wartete vergeblich auf die Stimme. Ratlos stand sie da, wusste nicht, gegen wen oder gegen was sie sich wehren sollte. Oder wollte. Sie beugte sich vor, streckte die zitternde Hand aus, spreizte die Finger, näherte sich der grauen Oberfläche, bis sich die Handfläche fest anschmiegte. Da war er! Dieser ungeheure Schmerz, der durch ihren Körper raste und ihr Herz sprengte. Die Fingerspitzen brannten, Tränen schossen in die Augen, liefen über die Wangen und froren augenblicklich fest. »Ich habe solche Angst!«
»Halte den Schmerz aus, du kannst das. Stell dich diesem Schmerz.«
Die Tränen flossen jetzt in Strömen. »Ich kann das nicht«, schluchzte sie. Sie wollte die Hand wegziehen, doch es ging nicht. Ihr ganzer Körper wurde von Schmerzen geschüttelt, sie erwartete jede Minute, das Leben auszuhauchen, als die Pein plötzlich nachließ. Erstaunt betrachtete sie ihre Hand, löste sie vom Felsen und richtete sich auf.
Unter ihr begann das Eis zu knacken, Pfützen bildeten sich auf der Oberfläche.
Eilig stakste Barbara ans Ufer und betrachtete das Schauspiel. Binnen weniger Minuten schmolz der gesamte See. Der Meteorit sank mit einem satten Gluckern unter die Oberfläche. Die Umgebung ergrünte, Blumen drängten aus der Erde hervor. Die ersten Schmetterlinge tauchten auf, hinter ihr ertönte Vogelzwitschern.
Noch leicht benommen schlug Barbara die Augen auf, blinzelte irritiert und richtete sich auf.
»Na? Wie waren Ihre Erfahrungen am See Ihrer Emotionen?«, fragte der Psychotherapeut mit sanfter Stimme.